Rezension: „Unter den Linden 6“ von Ann-Sophie Kaiser

Cover „Unter den Linden 6“ (Bildrechte: Ullstein)

„Und die Natur macht keinen Unterschied, ob es nun eine Frau oder ein Mann ist, der das Elekroskop bedient.“

(S.15)

Inhalt: Berlin 1907: Lise, Anni und Hedwig. Drei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten kämpfen mit großen Veränderungen in ihrem Leben. Lise hat in Wien ihr Physikstudium beendet und kommt nun nach Berlin, um unter Max Planck ihr Wissen zu erweitern. Anni tritt in einer völlig unbekannten Umgebung eine neue Stelle als Dienstmädchen an und Hedwig will sich in Abwesenheit ihres Mannes endlich den Traum eines Studiums an der Berliner Universität erfüllen und das, obwohl es Frauen zu dieser Zeit in Preußen noch nicht erlaubt ist sich zu immatrikulieren.
Allen drei steht ein steiniger Weg bevor, der von Kämpfen und Rückschlägen geprägt ist. Besonders Lise muss sich behaupten, da sie immer im Schatten von Otto Hahn steht.

Leseeindruck: Auf den ersten Blick mag dieses Buch einfach nur seichte Frauenunterhaltung sein, natürlich mit einer Portion Herzschmerz und am Ende besten Falls mit Happy End. Tja, Herzschmerz findet man zu Hauf und auch die weiblichen Protagonistinnen sprechen wohl eher Frauen an, alles andere ist aber ganz weit weg von einem einfach gestrickten Unterhaltungsroman.
Die Figur der Lise ist der realen Person Lise Meitner nachempfunden und zeichnet ihren Lebens- und Studienweg in Berlin nach. Lise Meitner war eine hochbegabte und auch fleißige Pysikerin, die Zeit ihres Lebens im Schatten von Otto Hahn stand. Auch ich gehöre leider zu den Personen, denen Otto Hahn durchaus ein Begriff ist, die aber mit Lise Meitner nichts anfangen können. Der Roman „Unter den Linden 6“ setzt genau an dieser Stelle an. Lise steht im Mittelpunkt und immer wieder werden die Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt ist, zum Thema gemacht. Neben der Physik sind die Rechte der Frauen das zweite große Thema des Romans.
Der Zugang zu Bildung bildet dabei den Schwerpunkt. Hedwig kämpft engagiert dafür, dass Frauen in Preußen studieren können und nicht nur als Gasthörerinnen geduldet und oftmals auch schikaniert werden. Das einfache Dienstmädchen Anni dagegen liest sich durch die Bibliothek ihres Dienstherren und man merkt schnell, dass sie blitzgescheit ist. Allerdings steht ihre soziale Stellung ihrem Wissensdurst im Weg. Die drei Frauen sind sehr unterschiedlich aber allen ist der Drang nach Selbstbestimmung eigen. Die unterschiedlichen Charaktere sorgen auch dafür, dass keine Langeweile aufkommt. Es werden so viele Themen abgesprochen, so dass dieser Roman hoffentlich viele Leser*innen finden wird. Nicht nur die Physik spielt eine tragende Rolle, auch die Geisteswissenschaften und vor allem die Geschichtswissenschaft findet ihren Platz im Roman. Diese Mischung hat mir persönlich besonders gefallen. Durch Lise konnte ich als Naturwissenschaftsmuffel einiges in Sachen Physik dazulernen. Auf der anderen Seite hatte ich viel Freude an Hedwigs Geschichtsstudium. Ich habe mich an meine eigene Studienzeit erinnert und bin froh, dass ich nicht in derart um meinen Studienplatz habe kämpfen müssen. Trotzdem konnte ich mich bestens in sie hineinversetzen. Die Charakterentwicklung ist bei allen Figuren plausibel dargestellt, wenn auch die großen Überraschungen fehlen. Die drei bleiben sich treu und entwickeln sich doch weiter. Mit Sicherheit sind die Charakterzeichnungen dem Genre des historischen (Frauen)Romans geschuldet. Das ist zwar schade, aber auch nicht weiter tragisch. Positiv zu nennen ist hier auch der Ausgang des Romans. Ich möchte nicht spoilern, deshalb sei nur gesagt, dass das Ende nichts verklärt oder beschönigt und ganz weit weg vom Kitsch ist – zum Glück.

Lieblingsnebencharakter: Ach ist das schwer. Aber am meisten im Gedächtnis geblieben ist mir Marie Althoff, Annis Dienstherrin. Auf der einen Seite ist sie zwar oft übermäßig streng und nutzt Annis Gutherzigkeit und Abhängigkeit ein stückweit aus, aber im Grunde ihres Herzens ist sie eine tolerante und gute Frau. Sie hat Anni unterm Strich weit mehr ermöglicht als es ihre Pflicht gewesen wäre und stellt letztendlich doch ihre eigenen Interessen zurück. Eine Frau mit Rückrad und dem Herz am richtigen Fleck. 

Fazit: Dieses gut recherchierte Buch ist so viel mehr als nur leichte Unterhaltung. Wichtige Themen wie Zugang zu Bildung, Gleichberechtigung und Errungenschaften der Naturwissenschaften werden in locker leichter Form erzählt. Ganz nebenbei lernt man mit Lise Meitner eine der wichtigsten Physikerinnen der Geschichte kennen. Sehr bereichernd ist auch das Nachwort der Autorin. Es lohnt sich einfach dieses Buch zu lesen. 

Bewertung
4 out of 5 stars

Bibliographisch Angaben:
Titel: Unter den Linden 6
Autorin: Ann-Sophie Kaiser
Verlag: Ullstein
ISBN: 9783550200601
Ausgabe: Taschenbuch (14,99 Euro)

Dieses Rezensionsexemplar wurde mir vom Verlag und vorablesen zur Verfügung gestellt. Vielen Dank.

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