„[…] Hauptsache, ich kann bei dir sein. Weil wir doch Schwestern sind […]. Nicht auf Schritt und Tritt und auch nicht in jedem Moment im Leben. Aber wenn es darauf ankommt. Und wenn es hügelig wird. Oder kalt und dunkel.“ (S.84/85)
Inhalt: Phoebe und April sind nicht nur Schwestern, sie sind fast schon beste Freundinnen oder Seelenverwandte. April ist krank, sie hat Magersucht. Ihre kleine Schwester Phoebe versteht die Welt nicht mehr und macht sich auf die Dinge so ihren eigenen Reim. Alles hält sie in Briefen an April fest, denn ihre besondere Sprache ist für sie der einzige Weg ihre Gefühle und Gedanken jemandem mitzuteilen. Phoebe ist eine kleine Kämpferin, die nicht nur ihre Schwester unglaublich vermisst, sondern auch noch alleine mit ihren Eltern klarkommen muss, die nichts mit ihren vielen Worten anfangen können.
Leseeindruck: Die Worte, die April und Phoebe füreinander finden sind schon besonders. Gerade die kleine Phoebe kann unheimlich gut mit Worten umgehen und lässt so ihre Eltern auch recht oft sprachlos zurück. Aber ich muss schon sagen, dass ich mich erst auf diesen Erzählstil einlassen musste. Die Briefe von April sind einseitig, da Phoebe (aus verschiedenen Gründen) nicht antworten kann. Wir erleben das Schicksal der großen Schwester also auf Phoebes Sicht. Das hat schon manchmal eigenwillige Züge, denn die kleine ist aufgeweckt und wahnsinnig clever für ihre 10 Jahre. Mir fiel es an der einen oder anderen Stelle selbst schwer zu glauben, dass so ein kleines Ding so vernünftige Schlussfolgerungen ziehen kann. Und trotzdem ist der Stil durchaus glaubwürdig, denn Phoebe sieht alles mit ihren ehrlichen Kinderaugen, hinterfragt alles und jeden und nimmt dabei jeden (besonders ihre Schwester) so wie er ist. Außerdem ist ihr Stil geprägt durch eine Menge einfacher Hauptsätze, die meist auch eher kurz sind. Und doch packt sie so viel Bedeutung in ihre Sätze. Wirklich toll. Sprachlich muss man vor der Autorin den Hut ziehen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich die Geschichte lange Zeit habe ruhen lassen (so ca. nach 100 Seiten), da mir zu wenig passiert ist. Ich hatte mir wahrscheinlich etwas anderes vom Buch erwartet. Vielleicht eine vom Schicksal gebeutetelte Familie wie in „Beim Leben meiner Schwester“ oder so etwas. Diese Familie ist aber zumindest bis zu einem gewissen Punkt selbst für alles verantwortlich. Diese oft auch unschöne Wahrheit hatte mir wohl nicht gefallen, weshalb ich das Buch bei Seite gelegt habe. Der zweite Anlauf hat mich allerdings eines besseren belehrt: Die Geschichte macht wirklich Spaß, denn in Phoebes Briefen gibt es so viel zu entdecken: Wortneuschöpfungen wie zum Beispiel der „Wörterverrater“ (S. 175) – aber findet ruhig selbst heraus, was das ist – kluge Erklärungen und so viel Liebe für die Schwester. Das restliche Buch habe ich in einem Rutsch durchgelesen. Gemeinsam mit April und Phoebe habe ich eine Menge Höhen und Tiefen erlebt, außerdem erfährt man nach und nach mehr über die gemeinsame Vergangenheit und das Familienleben. Ich muss schon sagen, da bleibt ein Kopfschütteln nicht aus, so hilflos (aber auch verständnislos) wie Aprils Eltern der Krankheit ihrer Tochter gegenüber stehen. Eines hat mich aber doch gestört, auch wenn es nur eine Kleinigkeit sein mag. Die Geschichte spielt in Berlin und es tauchen so viele englische Vornamen auf. Ok, April und Phoebe, diese Namen werden für mich ganz plausibel erklärt, aber dann gibt es noch Jerry, Devon, Hazel, Betsy, River. Ich weiß, so etwas ist künstlerische Freiheit
aber aus irgendeinem Grund habe ich mich wirklich daran gestört, weil es für mich nicht ins Gesamtbild passen wollte.
Lieblingsnebencharakter: Jerry, der Vater von Phoebes Freundin Hazel. Er kann mit der Wortgewalt der beiden Schwestern umgehen und versucht beide aufzufangen und ihnen das Schicksal erträglicher zu machen. Er hat etwas sehr wertvolles getan, ohne viel Worte darüber zu verlieren.
Fazit: Ein sehr berührender Briefroman. Es hat mich zwar zwei Anläufe gebraucht ihn zu lesen, aber ich bin ja so froh, dass ich ihn nochmal zur Hand genommen habe. Sonst wäre mir wirklich etwas entgangen. Ich habe nach einiger Zeit auch aufgehört mir schöne Textstellen zu markieren, denn man kann das Buch auf einer beliebigen Seite aufschlagen und wird ein wunderschönes Zitat finden. Dieses Buch sollte man nicht nur einmal lesen, denn darin kann man jedes Mal etwas lehrreiches entdecken. Für mich ist es kein klassisches Jugendbuch. Wer mit der Verwendung von Sprache etwas anfangen kann, der wird die Briefe mit viel Vergnügen lesen. Ich vergebe 4/5 Punkten, da sich mir das Buch erst beim zweiten Mal offenbart hat. Würde ich nur meinen zweiten Anlauf bewerten, würde ich ohne zu zögern die volle Punktzahl vergeben. Also lest selbst :-)
Bibliographische Angaben
Titel: Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
Autorin: Lilly Lindner
Verlag: Fischer Verlage
ISBN: 9783733500931
Ausgabe: Taschenbuch (9,99 €)