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Rezension: „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ von Lilly Lindner

„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ von Lilly Lindner (Bildquelle: Fischer Verlage)

„[…] Hauptsache, ich kann bei dir sein. Weil wir doch Schwestern sind […]. Nicht auf Schritt und Tritt und auch nicht in jedem Moment im Leben. Aber wenn es darauf ankommt. Und wenn es hügelig wird. Oder kalt und dunkel.“ (S.84/85)

Inhalt: Phoebe und April sind nicht nur Schwestern, sie sind fast schon beste Freundinnen oder Seelenverwandte. April ist krank, sie hat Magersucht. Ihre kleine Schwester Phoebe versteht die Welt nicht mehr und macht sich auf die Dinge so ihren eigenen Reim. Alles hält sie in Briefen an April fest, denn ihre besondere Sprache ist für sie der einzige Weg ihre Gefühle und Gedanken jemandem mitzuteilen. Phoebe ist eine kleine Kämpferin, die nicht nur ihre Schwester unglaublich vermisst, sondern auch noch alleine mit ihren Eltern klarkommen muss, die nichts mit ihren vielen Worten anfangen können.

Leseeindruck: Die Worte, die April und Phoebe füreinander finden sind schon besonders. Gerade die kleine Phoebe kann unheimlich gut mit Worten umgehen und lässt so ihre Eltern auch recht oft sprachlos zurück. Aber ich muss schon sagen, dass ich mich erst auf diesen Erzählstil einlassen musste. Die Briefe von April sind einseitig, da Phoebe (aus verschiedenen Gründen) nicht antworten kann. Wir erleben das Schicksal der großen Schwester also auf Phoebes Sicht. Das hat schon manchmal eigenwillige Züge, denn die kleine ist aufgeweckt und wahnsinnig clever für ihre 10 Jahre. Mir fiel es an der einen oder anderen Stelle selbst schwer zu glauben, dass so ein kleines Ding so vernünftige Schlussfolgerungen ziehen kann. Und trotzdem ist der Stil durchaus glaubwürdig, denn Phoebe sieht alles mit ihren ehrlichen Kinderaugen, hinterfragt alles und jeden und nimmt dabei jeden (besonders ihre Schwester) so wie er ist. Außerdem ist ihr Stil geprägt durch eine Menge einfacher Hauptsätze, die meist auch eher kurz sind. Und doch packt sie so viel Bedeutung in ihre Sätze. Wirklich toll. Sprachlich muss man vor der Autorin den Hut ziehen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich die Geschichte lange Zeit habe ruhen lassen (so ca. nach 100 Seiten), da mir zu wenig passiert ist. Ich hatte mir wahrscheinlich etwas anderes vom Buch erwartet. Vielleicht eine vom Schicksal gebeutetelte Familie wie in „Beim Leben meiner Schwester“ oder so etwas. Diese Familie ist aber zumindest bis zu einem gewissen Punkt selbst für alles verantwortlich. Diese oft auch unschöne Wahrheit hatte mir wohl nicht gefallen, weshalb ich das Buch bei Seite gelegt habe. Der zweite Anlauf hat mich allerdings eines besseren belehrt: Die Geschichte macht wirklich Spaß, denn in Phoebes Briefen gibt es so viel zu entdecken: Wortneuschöpfungen wie zum Beispiel der „Wörterverrater“ (S. 175) – aber findet ruhig selbst heraus, was das ist – kluge Erklärungen und so viel Liebe für die Schwester. Das restliche Buch habe ich in einem Rutsch durchgelesen.  Gemeinsam mit April und Phoebe habe ich eine Menge Höhen und Tiefen erlebt, außerdem erfährt man nach und nach mehr über die gemeinsame Vergangenheit und das Familienleben. Ich muss schon sagen, da bleibt ein Kopfschütteln nicht aus, so hilflos (aber auch verständnislos) wie Aprils Eltern der Krankheit ihrer Tochter gegenüber stehen. Eines hat mich aber doch gestört, auch wenn es nur eine Kleinigkeit sein mag. Die Geschichte spielt in Berlin und es tauchen so viele englische Vornamen auf. Ok, April und Phoebe, diese Namen werden für mich ganz plausibel erklärt, aber dann gibt es noch Jerry, Devon, Hazel, Betsy, River. Ich weiß, so etwas ist künstlerische Freiheit
aber aus irgendeinem Grund habe ich mich wirklich daran gestört, weil es für mich nicht ins Gesamtbild passen wollte.

Lieblingsnebencharakter: Jerry, der Vater von Phoebes Freundin Hazel. Er kann mit der Wortgewalt der beiden Schwestern umgehen und versucht beide aufzufangen und ihnen das Schicksal erträglicher zu machen. Er hat etwas sehr wertvolles getan, ohne viel Worte darüber zu verlieren.

Fazit: Ein sehr berührender Briefroman. Es hat mich zwar zwei Anläufe gebraucht ihn zu lesen, aber ich bin ja so froh, dass ich ihn nochmal zur Hand genommen habe. Sonst wäre mir wirklich etwas entgangen. Ich habe nach einiger Zeit auch aufgehört mir schöne Textstellen zu markieren, denn man kann das Buch auf einer beliebigen Seite aufschlagen und wird ein wunderschönes Zitat finden. Dieses Buch sollte man nicht nur einmal lesen, denn darin kann man jedes Mal etwas lehrreiches entdecken. Für mich ist es kein klassisches Jugendbuch. Wer mit der Verwendung von Sprache etwas anfangen kann, der wird die Briefe mit viel Vergnügen lesen. Ich vergebe 4/5 Punkten, da sich mir das Buch erst beim zweiten Mal offenbart hat. Würde ich nur meinen zweiten Anlauf bewerten, würde ich ohne zu zögern die volle Punktzahl vergeben. Also lest selbst :-)

Bewertung:
4 out of 5 stars

Bibliographische Angaben
Titel: Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
Autorin: Lilly Lindner
Verlag: Fischer Verlage
ISBN: 9783733500931
Ausgabe: Taschenbuch (9,99 €)

Rezension: „84, Charing Cross Road“ von Helene Hanff

„84, Charing Cross Road“ von Helene Hanff (Bildrechte: Atlantik)

„Kümmern Sie sich niemals darum, ob ich etwas bereits aufgetrieben haben könnte. Ich sehe mich nirgendwo anders mehr um.“ (S.28)

Inhalt: So viel gibt es zum Inhalt gar nicht zu sagen. Die Autorin Helene Hanff liebt Essays, Briefe und Biografien. In ihrer Heimat New York ist sie mit dem Angebot der Antiquariate unzufrieden. So schreibt sie dem Londoner Antiquariat Marks & Co. Aus ihrer Anfrage entwickelt sich zwischen Helene und dem Antiquar eine Brieffreundschaft, die über die reine Liebe zu Büchern hinaus geht.

Leseeindruck: Das Buch ist eine Sammlung von Briefen, von denen einige fehlen und dennoch habe ich den Briefwechsel zwischen Helene und ihrem Buchhändler Frank innerhalb von zwei Stunden verschlungen. Die Briefe versprühen Charme, Witz und spiegeln den Zeitgeist der Jahre 1949 bis 1969 wieder. Über 20 Jahre hat sich viel im Leben von Helene und Frank getan. Obwohl es sich ursprünglich um Geschäftskorrespondenz handelt, fließen nach und nach immer mehr private Dinge mit ein. Ganz besonders außergewöhnlich fand ich die Bereitschaft von Helene ihrem geschätzten Buchhändler-Team Dinge nach England zu schicken, die man in den 50ern dort nur schwer bekommen konnte (vom Schinken bis zu Strümpfen). Helene hat eine besondere Beziehung zu Büchern und weiß immer genau was sie will. Ich hatte viel Spaß ihren Ausführungen zum (gedruckten) Buch zu folgen. Auch wenn ihre Gedanken teilweise schon vor über 50 Jahren verfasst wurden, liegt sie damit doch oft auch heute noch richtig. „In der Tat, wenn ihre Bücher kosteten was sie wert sind, könnte ich sie mir nicht leisten!“ (S. 82) Manchmal hat sie recht eigene Ansichten, die mich zum Schmunzeln gebracht haben. „Es widerstrebt meinen Prinzipien ein Buch zu kaufen, das ich nicht gelesen habe.“ (S. 72)

Lieblingsnebencharakter: So viele Charaktere tauchen neben Helene und Frank nicht auf, daher war die Auswahl begrenzt. Nora, Franks Frau hat mir gefallen, da sie eine ganz eigene Beziehung zu Helene entwickelt, ganz unabhängig von allen Büchern.

Fazit: Jeder, der Bücher und/oder Buchhandlungen liebt, sollte dieses Buch lesen. Es hat Charme und ist authentisch, vielleicht bekommt man danach auch selbst mal wieder Lust einen Brief zu schreiben. Passend zur tollen Geschichte ist übrigens die liebevoll gestaltete Ausgabe aus dem Atlantik Verlag. Dieses Buch ist übrigens „Schuld“ daran, dass ich auf Atlantik aufmerksam geworden bin und dieser nun zu meinen Lieblingen innerhalb der Verlagslandschaft gehört. (Hier geht es zur Verlagsvorstellung) Einen riesen Dank an Hoffmann und Campe, die das Buch 2001 für die deutschen Leser aus dem Dornröschenschlaf geweckt haben. Eine einzigartige Geschichte, die auf jeden Fall die volle Punktzahl verdient.

Bewertung:
5 out of 5 stars

Bibliograpische Angaben:
Titel: „84, Charing Cross Road“
Autorin: Helene Hanff (Übersetzung: Rainer Moritz)
Verlag: Atlantik
ISBN: 9783455600056
Ausgabe: Hardcover (14,99€)